Als jüngste von 6 Kindern kam ich 1980 zur Welt. Im Alter von 2 Jahren am 14.12.1982 kam ich als Pflegekind zu meinen Adoptiveltern. Mit mir zusammen kamen mein älterer Bruder (8Jahre) und meine ältere Schwester (6Jahre) an diesem Tag in unsere neue Familie. Ein Zwillingspärchen, das zu dem Zeitpunkt 12 Jahre alt sein musste, wurde bereits vorher zur Adoption freigegeben, während eine weitere Schwester (11 Jahre) bei ihrer Oma aufwachsen sollte.
- Da sich der Mensch in der Regel erst an Ereignisse ab dem 2. Halbjahr des 4. Lebensjahr an Ereignisse erinnern kann, habe ich also keine eigene Erinnerung an die Zeit bei meinen leiblichen Eltern, sondern weiß nur, was in irgendwelchen Jugendamt-Akten steht, oder Dinge, die ich erzählt bekommen habe.
- Bei meinen älteren Geschwistern war und ist das ganz anders. Sie hatten Erinnerungen an Misshandlung, Vernachlässigung und viele Aufenthalte in Pflegefamilien und Heimen. Jedoch wurden sie immerwieder zurück in die Obhut meiner leiblichen Eltern gegeben.
- Ich kenne die Narben, die den Rücken meines Bruders ein Leben lang zeichnen, weil ihm kochendes Wasser übergeschüttet wurde. Und ich kenne die Geschichte, wie der Mann, der mein Vater sein sollte versucht hat, mich in der Badewanne zu ertränken. Wie mein Bruder mich gerettet hat und, dass die darauffolgende Verhaftung dazu führte, dass wir zur Adoption frei gegeben wurden.
Zu der neuen Familie gehörten jetzt also Meine Eltern, meine 2 Geschwister und meine Oma. Dazu kamen immer wieder Pflegekinder, die kurzfristig einen Notplatz bei uns fanden, oder Baby's die zur Adoption freigegeben wurden, bis sie bei ihrer neuen Familie einziehen konnten. Im Vergleich zu meinen Geschwistern war ich relativ problemlos. Während meine Eltern intensiv bemüht waren, mit den psychischen Folgen meiner Geschwister klar zu kommen, war ich die meiste Zeit bei meiner Oma.
Kaum war ich im Kindergarten angemeldet, entdeckte man bei mir ein gewisses Talent im Bereich Musik. So wurde vorgeschlagen, mich zur musikalischen Früh Förderung anzumelden. Ich besuchte mit 3,5 Jahren meine erste Musikschule und kam mit 4 in den Kinderchor. In diesem Kinderchor war ich nicht sehr lange, da sich ein größerer, besserer Kinderchor für mich interessierte. Man Entdeckte recht schnell, dass ich das absolute Gehör besaß, da ich keine Noten lesen konnte, aber jedes Stück, dass ich ein oder 2x gehört hatte, recht einfach nachspielen konnte. So wurde ich recht schnell zum Wunderkind. Ich bewieß zusätzlich ein gewisses Talent für die Schauspielerei und so spielte ich im zarten Alter von 6 Jahren das erste Mal eine Rolle mit Solo in einem Musical, das sogar im Fernsehn zu sehen war. Bis zum heutigen Tag habe ich diese Aufführung der Wunderuhr nicht gesehen. Wir hatten damals keinen Fernseher. Zeitgleich erlernte ich mein 2. Instrument.
Kurz vor meinem 7. Geburtstag kam ein neues Pflegekind notfallmäßig in unsere Familie. Das ist insofern interessant, dass dieses Pflegekind Gehirnblutungen nach der Geburt erlitt und als schwerbehindert galt. Meine Eltern wollten dieses Pflegekind eigentlich nicht mehr übernehmen und stimmten nach viel hin und her einer Aufnahme für 6 Wochen zu. Chrissi war damals 10 Monate alt und verließ mein Elternhaus im Alter von 34 Jahren. Er kostete meine Eltern viel Energie, zusätzlich zu der Energie, die sie in meine beiden älteren Geschwister steckten. Für mich gab es bei meinen Eltern wenig Platz, außer, wenn ich Auftritte hatte, dann bekam ich ihre Beachtung. Den Rest der Zeit war ich auf mich allein gestellt oder bei meiner Oma.
Mit 7 Jahren wollte ich unbedingt Trompete lernen. Ich hatte gehört, dass meine beiden Opas und auch mein Vater Trompete spielen konnten und entwickelte eine besonderes Interesse für dieses Instrument, das später mein Hauptinstrument von 7 Instrumenten werden sollte. Ich wurde in einer Musikschule angemeldet für den Trompetenunterricht und nur ein par Wochen später reichten meine Künste schon aus, um bei einem Posaunenchor zu spielen. Der Unterschied zwischen dem Erlernen des Trompetenspiels in Grundton C und dem Spielen im Posaunenchor in Grundton B machte mir nichts aus. Ich brauchte ja keine Noten, sondern hauptsächlich mein Gehör. Auch wenn ich das Lesen von Noten bis Dato gelernt hatte.
Das bewegte tatsächlich etwas im Verhältnis zu meinem Vater. Er hörte mir gerne zu und wollte wieder Trompete spielen. Deshalb fing er auch an wieder zu üben und trat in den gleichen Posaunenchor ein, in dem auch ich spielte. Wir hatten also plötzlich eine gemeinsame Zeit, die ich vorher nicht kannte. Ich spielte immer die 1. Trompete, er die 2. Was dann auch zuhause Spaß machte, wenn wir gemeinsam übten. Während meiner Grundschulzeit hatte ich durchaus noch Spaß daran. Jedenfalls mehr Spaß, als an Schule und Hausaufgaben. Und ich stellte schnell fest, dass schlechte Noten und Ärger in der Schule kaum eine Auswirkung für mich hatten, solange es genug Lob für meine Künste beim Singen, Schauspielern und der Musik gab.
Der Spaß verging allerdings mit dem Eintritt in die weiterführende Schule. Ich wurde trotz meiner schlechten Noten auf einer Privatschule mit Schwerpunkt Musik aufgenommen. Mein Schulweg war sehr weit und lang. Nach einem langem Schultag musste ich regelmäßig üben und obwohl ich Hausaufgaben vernachlässigte blieb mir wegen dem ständigen üben kaum Freizeit. Ich musste den Chor und das Theaterspielen aufgeben. Selbst Samstags musste ich oft für Proben in die Schule oder hatte Auftritte und Sonntags mit dem Posaunenchor in der Kirche spielen. Und Ferien? Was war das nochmal? Oft wurde ich für Musikcamps angemeldet oder musste in Ferienschulen, um den vernachlässigten Stoff aufzuholen um nicht sitzen zu bleiben.
Ich beneidete meine Geschwister, die zuhause sein durften, Freunde treffen durften, die ich gerne gehabt hätte. Freunde hatte ich nämlich keine. Woher auch? Für meine gleichaltrigen Kameraden war ich die verwöhnte Göre, die sich alles erlauben durfte, die keine Konsequenzen zu fürchten brauchte und alles machen durfte, was Spaß macht. Ja, während der Musikcamps und Ferienschulen lernte ich Bogenschießen, machte meinen Surfschein, erlernte das Segeln, später beim Blue-Lake-Fine-Artists-Camp in Michigan/USA durfte ich sogar raften und vieles andere, was ich so alles erlebte sorgte zu der damaligen Zeit bei den Kindern aus so einem Bauerndorf für einiges an Neid und nicht gerade dazu, Freunde zu finden.
Das war in der Schule nicht anders. Keiner der Lehrer traute sich etwas gegen mich zu sagen. Ich war Direktors Liebling und wurde in der 8. Klasse die 1. Trompete der Big Band, in der sonst nur Oberstufenschüler waren. Ich habe ein ganzes Album mit Zeitungsartikeln über meine Aktivitäten. Zusätzlich zu den Auftritten mit Posaunenchor und Big Band würde ich auch oft solo gebucht oder mit meinem Vater zusammen. Spaß hatte ich aber schon lange keinen mehr dabei. Ich erinnere mich z.B. an Weihnachten, da hätte ich allein an Heilig Abend 7 Auftritte von Vormittags um 10:00 und der letzte war um 22:00. Nur um am 1. Weihnachtstag wieder in der Kirche zu spielen und am 2. Tag dann in ein Musikcamp geschickt zu werden, in dem wieder täglich stundenlanger Unterricht und Proben auf dem Programm standen.
Als ich 14 war erkrankte meine Oma an Krebs und wurde zuhause gepflegt, bis sie letztendlich starb. Ihr letzter Wunsch war, dass ich noch einmal für sie spielen sollte. Und während ich ihr Lieblingslied für sie spielte, schlief sie nebenan friedlich ein. Danach wurde meine Einsamkeit zu einer unüberwindbaren Hölle für mich. Meine Oma war mein Halt, mein Anker und die Person die mich verstand. Ich hatte sonst niemanden. Schon lange fühlte ich, dass meine Eltern mich eigentlich nicht sahen, sondern nur die Musik, die ich aber eigentlich gar nicht mehr wollte. Ja, das ging sogar soweit, dass ich mir im Alter von 16 Jahren das Leben nehmen wollte. Ich dachte lange darüber nach und bereitete sogar alles vor. Aber da war noch etwas anderes:
Als meine Oma krank wurde, kam die Sozialstation zu uns und pflegte sie. Das gefiel mir und ich hatte das erste mal das Gefühl, etwas gefunden zu haben, was ich später mal machen wollte. Und plötzlich wurde mir klar: Mir das Leben zu nehmen, wäre nicht der richtige Weg. Der richtige Weg war es meine Ziele zu definieren, zu tun was ich wollte und nicht, was andere von mir erwarteten. Ich fing also an Bewerbungen zu schreiben für die Ausbildung, und schrieb meine Abmeldung von der Schule nach der 10. Klasse. Damals hatte man dann automatisch den Realschulabschluß.
Meine Eltern hatten keine andere Wahl als den Ausbildungsvertrag und die Abmeldung von der Schule zu unterschreiben, weil ich damit drohte, abzuhauen und sie beim Jugendamt so schlecht zu machen, dass ihnen Chrissi weggenommen würde. Der Schock für sie war wohl sehr heftig, denn sie unterschrieben alles. Von diesem Tag an, musste ich mir täglich anhören, dass ich die Ausbildung sowieso nicht schaffen würde, dass ich undankbar sei. Was man alles in mich investiert hätte etc.. Aber mein Entschluss stand fest und 10 Tage vor meinem 17. Geburtstag zog ich in das Peronalwohnheim des Krankenhauses und begann die Ausbildung zur Krankenschwester. Das war nicht immer einfach, immerhin war ich es bis dahin nicht gewohnt, dass Lehrer oder andere Menschen von mir wirklich Leistungen erwarteten.
Damit war meine Umwandlung zum schwarzen Schaf perfekt. Die Jahre danach waren familienintern geprägt von Vorwürfen und Vorhaltungen. Von Aussagen, wie enttäuscht man sei und, dass ich das alles gar nicht schaffen würde. Zuletzt bleibt noch zu sagen: Das ist meine Sicht auf die Dinge, wie sie lange für mich gültig war. Mittlerweile habe ich mit meiner Familie einiges aufgeräumt und auch die Sichtweisen meiner Eltern kennengelernt und sehe vielleicht manches nicht mehr ganz so negativ, wie damals. Bzw. gibt es ein Zitat, dass hier für mich absolut Gültigkeit hat: "Ich habe beschlossen zu vergeben. Nicht, weil ich für gut halte, was passiert ist, sondern weil ich es mir wert bin ohne diesen Groll zu leben."